„Wir schlittern in eine Rezession“
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Stand: 02.09.2022
Explodierende Energiepreise, Inflation auf Rekordkurs, Lieferketten-Chaos: Welche Folgen hat die Dauerkrise für den Wirtschaftsstandort Deutschland? Diese Frage stand im Mittelpunkt des Wirtschaftsforums Impulse. Die Antwort von Professor Marcel Fratzscher fiel schonungslos, aber nicht hoffnungslos aus: „Wir schlittern in eine Rezession. Aber ich hoffe, dass sich die deutsche Wirtschaft in der zweiten Jahreshälfte 2023 wieder erholt.“ Mehr als 200 Gäste waren der Einladung von Industrie- und Handelskammer (IHK) Mittlerer Niederrhein und Rheinischer Post in die Niederlassung von Mercedes-Benz Herbrand in Krefeld gefolgt, um den Vortrag des Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zu hören.
IHK-Präsident Elmar te Neues stimmte die Gäste auf das Thema des Abends ein: Viele gasintensive Unternehmen stünden vor der Frage, ob das Gas im Winter reiche und ihre Produktion in den kommenden Monaten gesichert sei. „So schwierig die Lage sei – es darf nicht dazu kommen, dass unsere heimische Industrie stillgelegt wird“, sagte te Neues und appellierte: „Auch wir Unternehmen müssen aus der Krise lernen und resilienter werden.“
Fratzscher stimmte der Einschätzung zu und skizzierte die aktuelle Situation: „Zu 80 Prozent sind die hohen Energiekosten für den Abschwung verantwortlich.“ Die Unternehmen würden Investitionen auf Eis legen, und die Menschen würden weniger konsumieren. „Dass wir diese beiden Effekte gleichzeitig beobachten, ist das besondere an der jetzigen Krise.“ Der DIW-Chef nannte drei große Transformationsprozesse, vor denen die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft stehen: die Neugestaltung der Globalisierung, der ökologische und digitale Wandel sowie – für Fratzscher die wichtigste Transformation – die soziale Herausforderung, „die Menschen mitzunehmen“.
Wie kann es Deutschland gelingen, diese drei Mega-Herausforderungen angesichts des derzeitigen Ausnahmezustands zu meistern? In der Debatte um die Zukunft des globalen Handels und die deutsche Abhängigkeit von China und anderen Partnern ist Fratzschers Position eindeutig: „Die These von der De-Globalisierung, einem Verzicht auf Zulieferung aus dem Ausland und einer Rückverlagerung von Produktion, ist ein Irrglaube.“ Die Idee von „Wandel durch Handel“ sei nicht grundsätzlich falsch. Allerdings gehe es künftig darum, mit wichtigen Partnern wie China gleichberechtigt und „auf Augenhöhe“ zu kooperieren. „Uns fehlen auch schlicht die Fachkräfte, um mehr Produktion hierzulande aufzubauen“, so Fratzscher. „Wir brauchen eine klügere Globalisierung mit Blick auf mögliche Krisen.“ Lieferketten müssten diversifiziert werden. Unternehmen sollten auf viele verschiedene Zulieferer, Partner und Kunden in diversen Weltregionen setzen.
Die ökologisch-digitale Transformation kommt für Fratzscher viel zu langsam voran. „Nicht nur aus Klimaschutzgründen brauchen wir mehr Tempo“, appellierte der Ökonom. „Auch aus wirtschaftlichen Gründen sollten wir schneller werden, wenn wir uns international Wettbewerbsvorteile in grünen Technologiefeldern sichern wollen.“ Investitionen von 2,5 bis 3 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung Deutschlands sollten in diesen Transformationsprozess fließen –
für Fratzscher gut angelegtes Geld. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien verlaufe viel zu schleppend. „Bis zu sieben Jahre dauert bei uns im Durchschnitt die Errichtung eines neuen Windrads – das ist für viele Investoren viel zu lang“, berichtete Fratzscher. „Es mangelt nicht an Kapital. Das Problem ist die Regulierung.“
Auch im sozialen Bereich gibt es für den DIW-Präsidenten dringend Handlungsbedarf. Stichwort Chancengleichheit: Dass die berufliche Entwicklung junger Menschen immer noch maßgeblich vom Einkommen und dem Bildungshintergrund des Elternhauses abhänge, dürfe Deutschland nicht länger hinnehmen. Wenn die Eltern nicht dazu in der Lage seien, ihre Kinder auf dem Weg in ein erfolgreiches Berufsleben zu unterstützen, müsse der Staat dafür mehr investieren und diese Aufgaben übernehmen.
Investitionen in Bildung, in die ökologisch-digitale Transformation und die Bewältigung der aktuellen Wirtschaftskrise – die Antwort auf die Frage, wie das alles finanziert werden soll, blieb Fratzscher nicht schuldig: „Es gibt drei Finanzierungsoptionen: Sparen, Steuern erhöhen oder Schulden machen.“ Angesichts der Herausforderungen sei es keine Option, die wesentlichen Zukunftsinvestitionen einzusparen. In der derzeitigen Krise die Steuern zu erhöhen, sei kontraproduktiv. Bleibe aus seiner Sicht nur die Verschuldung. „Wir müssen jetzt die Menschen entlasten, um die Krise zu meistern, wir müssen jetzt investieren“, appellierte der Ökonom und verwies auf das niedrige Zinsniveau. „Derzeit fließen 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung in die Schuldentilgung. Wir können uns weitere Schulden leisten.“ Klare Worte, die im Anschluss für eine lebhafte Diskussion mit dem Publikum sorgten.
Bildtext: Professor Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), war zu Gast beim IHK-Wirtschaftsforum Impulse.
Foto: IHK