Wer macht die Arbeit morgen?
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Stand: 15.02.2023
„Wir sind die Agentur für Arbeit, nicht für Freizeit“ – mit diesen deutlichen Worten an die Adresse der Generation Z sorgte Andrea Nahles jüngst für Schlagzeilen. Die Chefin der Agentur für Arbeit und ehemalige Bundesministerin und SPD-Parteivorsitzende ist nach wie vor meinungsstark und diskussionsfreudig. Davon konnten sich rund 90 Unternehmer, Politiker und Vertreter von Institutionen überzeugen, die der Einladung der Industrie- und Handelskammer (IHK) Mittlerer Niederrhein gefolgt waren, um sich zur Frage „Wer macht die Arbeit von morgen?“ auszutauschen.
IHK-Hauptgeschäftsführer Jürgen Steinmetz stimmte die Gäste in der IHK-Hauptgeschäftsstelle in Neuss auf das Thema ein und machte deutlich, wie ernst die Lage ist: „Der Fachkräftemangel ist eine der größten Bedrohungen für den Erfolg unserer Unternehmen. Derzeit fehlen schon 25.000 Fachkräfte am Mittleren Niederrhein, 2035 werden es schon 91.000 sein.“ Immer mehr Branchen seien betroffen: Pflege, IT, Gastronomie und Logistik. Längst würden nicht nur qualifizierte Fachkräfte verzweifelt gesucht, auch Hilfskräfte seien Mangelware. Das Mitarbeiterproblem verschärfe die ohnehin angespannte Lage der Unternehmen zusätzlich. Steinmetz: „Wie soll die Digitalisierung vorangetrieben werden? Wie soll die Energiewende gelingen? Wer macht die Arbeit von morgen, Frau Nahles?“
Die Antwort der Vorstandsvorsitzenden der Agentur für Arbeit fiel differenziert aus. Sie bestätigte die Einschätzung der IHK: „Konjunkturelle Einbrüche haben heute nicht mehr automatisch Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Die Unternehmen entlassen ihr Personal nur im absoluten Notfall.“ Dass der demografische Wandel den Mangel an Arbeitskräften zunehmend verschärfe, sei seit langem bekannt. „Die gute Nachricht ist: Man kann etwas dagegen tun“, so Nahles und beschrieb „fünf Stellschrauben“. So müsse etwa das Potenzial der gut qualifizierten Frauen besser genutzt werden. „Fragen Sie die Frauen in ihrem Unternehmen, die Teilzeit arbeiten, was Sie tun können, damit diese Fachkräfte mehr Stunden leisten können“, appellierte die Arbeitsagentur-Chefin an die Unternehmer im Saal. „Laut Umfragen möchten 11 Prozent der Frauen mehr arbeiten.“ Oft reichten kleine betriebliche Anpassungen aus, um das zu ermöglichen.
„Stellschraube Nummer 2: Wir müssen junge Menschen noch mehr als bisher mit Unternehmen in Kontakt bringen und über Berufe informieren“, so Nahles. Sie warb für Praktika und Berufskunde in den Schulen – auch in den Gymnasien, am besten ab Klasse fünf. Ein relevanter Faktor dabei seien die Eltern. „Die Eltern sind die wichtigsten Berufsberater“, erklärte Nahles. Leider sei das Wissen von Vätern und Müttern über heutige Berufe und Karrieremöglichkeiten nicht immer auf dem neuesten Stand. „Wir müssen also auch die Eltern gezielt über die neue Berufswelt informieren“, sagte Nahles.
Eine bessere Nutzung des Potenzials älterer Arbeitnehmer sei ein weiteres wichtiges Instrument. Nahles regte an, die Arbeitszeit an die Lebensphasen – Jugend, Elternzeit, Alter – der Menschen anzupassen. Die Automatisierung in den Betrieben und mehr Zuwanderung von qualifizierten Menschen aus Drittstaaten sind für Nahles die Stellschrauben vier und fünf, um dem Fachkräftemangel zu begegnen.
Weniger Bürokratie bei der Zuwanderung und mehr grenzübergreifende Kooperationen wünschte sich IHK-Vizepräsidentin Susanne Thywissen (Live-/Unternehmenskommunikation) in der anschließenden Podiumsdiskussion mit Unternehmerinnen und Unternehmern aus der Region: „Wenn unsere Ausbildungshinhalte etwa in Pflegeberufen mit den Lehrplänen in anderen Ländern abgestimmt seien, könnten zugewanderte Menschen bei uns beruflich besser Fuß fassen.“ Viele Unternehmen seien nicht gut über die Angebote der Arbeitsagenturen zur Integration – etwa Unterstützung bei Sprachkursen – informiert. Diese Angebote könnten noch besser kommuniziert werden.
Andrea Klimek, Gesellschafterin der Rheinland Solar GmbH, konnte aus eigener Erfahrung bestätigen, wie groß die Hürden bei der Rekrutierung von Fachkräften aus Drittstaaten sind. „Aber es lohnt sich“, so Klimek. Sie warb für mehr Flexibilität – auch in puncto Potenzial von Frauen. „Wir haben die Arbeitsplatzbeschreibung einer Mitarbeiterin, die ein Kind bekommen hat und trotzdem weiterarbeiten wollte, so lange neu definiert, bis es für alle gepasst hat.“
Auch Christian Cichon, Geschäftsführender Gesellschafter der Cichon Personalmanagement GmbH, warb für mehr Flexibilität: „Die Unternehmen sollten das vorhandene Potenzial in ihren Betrieben optimal nutzen und in die Qualifizierung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter investieren.“ So könnten Unternehmen durch vorausschauende Weiterentwicklung ihres Personals den Fachkräftemangel selbst beheben.
Bildtext 1: Andrea Nahles, Vorstandsvorsitzende der Agentur für Arbeit, war der Einladung der IHK Mittlerer Niederrhein gefolgt und diskutierte mit Unternehmerinnen und Unternehmern. Foto: IHK Mittlerer Niederrhein
Bildtext 2: Sie begrüßten Andrea Nahles (2.v.r.), Vorstandsvorsitzende der Agentur für Arbeit, zum Austausch mit Unternehmerinnen und Unternehmern (v.l.): Moderatorin Beate Kowollik, Christian Cichon (Geschäftsführender Gesellschafter der Cichon Personalmanagement GmbH), IHK-Vizepräsidentin Susanne Thywissen, IHK-Hauptgeschäftsführer Jürgen Steinmetz und Andrea Klimek (Gesellschafterin der Rheinland Solar GmbH).
Foto: IHK Mittlerer Niederrhein